Die Zapatistas unterbreiten einen neuen Vorschlag im „Kampf für das Leben“
Die Reisebusse der internationalen Karawane schaukeln bereits seit Stunden durch die Berge von Chiapas. Hinter Ocosingo geht es langsam bergab in Richtung Selva Lacandona, der östlichen Regenwaldregion. Die Vegetation wird tropischer, die Straßen werden unbefestigter, die Blicke der Menschen am Straßenrand überrascht und neugierig beim Anblick der großen Busse. Hin und wieder verkünden Schilder am Straßenrand den Sitz eines GALs (Autonome lokale Regierung), der kleinsten Einheit der neuen zapatistischen Verwaltungsstruktur. Schließlich die ersten Transparente quer über die Straße gespannt, die uns zum 30-jährigen Jubiläum des Aufstandes der EZLN (zapatistische Armee der nationalen Befreiung) willkommen heißen.
Auf den letzten wenigen hundert Meter stehen Kämpfer*innen der EZLN in den typischen grün-braunen Uniformen Spalier. Die Feierlichkeiten finden im Caracol IX „Dolores Hidalgo“ statt, einem der erst 2019 neu gegründeten Verwaltungszentren der zapatistischen Autonomie. Vom Eingang her öffnet sich der Blick über das weitläufige Gelände des Caracols, über die große Festwiese zur Bühne, dahinter das Tal mit Wäldern und Maisfeldern, am Horizont die nächste Bergkette.
Gut 5000 Menschen sind zu dem Jubiläum angereist, der Großteil von ihnen Zapatistas, die von ihren Dörfern dorthin delegiert wurden. Auffällig ist die starke Präsenz der EZLN, wie sie bei Feierlichkeiten in jüngerer Vergangenheit weniger gegeben war. Neben Internationalist*innen aus aller Welt (vor allem Europa) und solidarischen Gruppen aus Mexiko sind auch viele Mitglieder verschiedener Organisationen des nationalen Indigenenkongress (CNI) aus dem ganzen Land anwesend.
Das Programm beginnt mit Basket- und Volleyballspielen, dann folgt ein ganzer Tag voller Theaterstücke. Jede der 12 Zonen, in die die Selbstverwaltung der Zapatistas eingeteilt ist, präsentiert ein Stück, in dem ein Aspekt der zapatistischen Geschichte oder der aktuellen Entwicklungen dargestellt wird: Von den Zuständen auf den Fincas, wo ihre Großeltern bis zum Aufstand als Sklaven lebten, bis hin zum zynisch benannten „Maya-Zug“ und wie das Megaprojekt aktuell die Leute mit falschen Versprechungen lockt und dann doch nur Zerstörung bringt. Spielend erklären sie die neue Verwaltungsstruktur, die seit einigen Wochen das System der Räte der guten Regierung abgelöst hat, und das „Común“ (in etwa: Gemeinschaftliche, Gemeinsame), die neue Form von Gemeinschaftseigentum, das sie im Kommuniqué Nr. 20 kurz vor dem Jubiläum eingeführt haben und mit dem sie dem fortschreitenden Landraub und der Umweltzerstörung begegnen wollen.
Nach den Theaterstücken geben die Zapatistas Lieder und Gedichte über Gemeinschaft, Widerstand, Rebellion und Mutter Natur zum Besten. Die Mariachi-Band spielt sich erst einmal vor dem begeisterten Restaurant warm, bevor sie die Bühne betritt. Auf einer kleinen Seitenbühne spielt die Marimba, das traditionelle chiapanekische Instrument, das einem riesigen Xylophon gleicht und von bis zu 3 Personen gleichzeitig gespielt wird. Jeden Abend des viertägigen Festes wird bis in die frühen Morgenstunden getanzt – immerhin ist es die erste Gelegenheit zum gemeinsamen Feiern seit Beginn der Corona-Pandemie, und das bei sich stetig intensivierenden Angriffen der Paramilitärs. Die „Milicianos“ der EZLN mischen sich dabei bunt unter die Menge der Tanzenden. Immer wieder fällt Mitgliedern der europäischen Delegation auf, wie überraschend wohl man sich im Beisein der vielen Uniformierten fühlt, die für Militärs sehr freundlich und zurückhaltend auftreten.
Auch der Abend des 31. beginnt mit Tanz, der jedoch ein, zwei Stunden vor Mitternacht unterbrochen wird, um die Festwiese für die Parade der EZLN frei zu machen. Mit der viel beschriebenen Lautlosigkeit der zapatistischen Armee stehen plötzlich ca. 1000 Kämpfer*innen in Reih und Glied auf dem Platz. Im Gleichschritt marschieren sie auf und schlagen ihre Stöcke aufeinander – begleitet von Cumbia. Zum mexikanischen Ska-Klassiker „La Carencia“ springen die Frauen, bis eben als Block den deutlich zahlreicheren Männern gegenüberstehend, plötzlich ausgelassen über die Wiese. Dann rennen alle vom Platz und bilden für die Dauer der folgenden Rede einen Ring um das Publikum.
Der Subcomandante Moisés, Sprecher der EZLN, spricht zuerst auf Tseltal, dann wiederholt er die Rede auf Spanisch. Sie ist im gewohnten Stil direkt und deutlich formuliert, angesichts des historischen Datums unerwartet kurz. Auch enthält sie wenig Neues, wenn man die Veröffentlichungen der letzten Wochen gelesen hat, umso klarer ist sie aber in ihrer Eindringlichkeit und der Schwerpunktsetzung: Das Común wird nochmals thematisiert, als dritte Form von Landbesitz. Es gibt weiterhin das Eigentum von Familien an dem Land, was sie zu ihrem eigenen Lebensunterhalt brauchen, sowie das Kollektiveigentum der zapatistischen Organisation, etwa von den Vieh- und Kaffeekooperativen. Beides – familiärer und kollektiver Besitz – bleibt unberührt. Aus bisher ungenutzten Teilen der beim Aufstand 1994 wiederangeeigneten Erde, wird nun das „Común“ geschaffen, auch „Erde von niemandem, Erde von allen“ genannt. Nicht nur Zapatistas, sondern das gesamte „Pueblo“ (Volk/Dorf) bestimmt über ihre Nutzung. So soll auch über die zapatistische Organisation hinaus kollektives Arbeiten gelernt und gemeinschaftliches Verantwortungsgefühl für Erde und Natur entwickelt werden, um dem Raubbau von Großkonzernen und Regierungen etwas entgegenzusetzen. Auch Menschen aus aller Welt werden eingeladen, gemeinsam mit den Zapatistas die „Tierra Común“ zu bearbeiten. Aber, so stellt Moisés noch einmal klar: „Wir brauchen niemanden, der kommt, um uns politischen Unterricht über den Kapitalismus zu geben – es ist so einfach und klar zu sehen, wie er wirkt, dass es die Verantwortung eines jeden selbst ist, wenn er es nicht sehen will.“ Was hingegen willkommen ist, ist praktisches Wissen „für das Leben“.
Das ist der schöne Teil der Rede. Der andere Schwerpunkt ist deutlich düsterer. Er wird schon zu Beginn klar, als Moisés erklärt, dass keiner der Zapatistas bereits seine Pflicht erfüllt hätte – nur die Gefallenen. Gegen Ende wird er noch deutlicher: „Wir müssen die Soldaten und schlechten Regierungen nicht töten, aber wenn sie kommen, werden wir uns verteidigen.“ Diese Aussagen passen zur starken Präsenz der EZLN und ihrer großen Parade. Auch der Umstand, dass der für seine Poesie bekannte Galeano kürzlich vom Subcomandante (Sprecher) zum Hauptmann (El Capitán) umbenannt wurde und während der gesamten Feierlichkeiten nicht einmal das Wort ergreift – nur Pfeife rauchend im Hintergrund sitzt – all das spricht eine deutliche Sprache: Die Zapatistas bereiten sich auf den „Sturm“ vor, wie sie es nennen. Sie sehen schwere Zeiten auf sich zukommen und sind bereit – so sehr sie auch eine kriegerische Eskalation vermeiden wollen – sich notfalls wieder mit Waffen zu verteidigen. Angesichts der Zuspitzungen und Angriffe der letzten Jahre scheint jener Punkt nicht mehr weit entfernt.
Am nächsten Tag, am 1. Januar 2024, genau 30 Jahre nachdem die Zapatistas mit ihrem Aufstand die Weltöffentlichkeit überraschten, geht das Fest weiter. Nachdem alle zapatistischen Beiträge dargebracht wurden, präsentieren die internationalen Gäste Lieder, Poesie, Tanz und Theaterstücke. Auch die europäische Delegation singt einige kämpferische Lieder und in Form von Grußworten der Frauenverteidigungseinheiten aus Şengal sowie der YPJ aus Rojava wurde dem bedeutenden Jahrestag gratuliert.
Auch ein Lied in Erinnerung an den in Kurdistan gefallenen deutschen Internationalisten Şehîd Bager Nujîan (Michael Panser) wird vorgetragen. Seine Suche nach realen Utopien hatte ihn selbst nach Chiapas, Mexiko gebracht. Kurz bevor er 2018 gefallen ist, hat er einen Brief aus den kurdischen Bergen zum 25. Jahrestag des Zapatistischen Aufstands gesendet, indem er die Parallelen des gemeinsamen Kampfes betonte.
Während der zweiten Parade der EZLN dreht auf der Bühne ein zapatistisches Kind mit einem kleinen Fahrrad seine Runden, fast gänzlich unbemerkt vom Publikum – doch ein starkes Symbol. Es zog sich durch alle die 20 aktuellen Kommuniqués und steht für die Zukunft der zapatistischen Pueblos, für die kommenden sieben Generationen, an die sie bei ihren aktuellen Planungen denken. Wie immer verlieren die Zapatistas bei aller Dunkelheit auch die Hoffnung nicht aus dem Blick und bringen mit dem „Común“ wieder einmal einen überraschenden, konkreten Vorschlag, wie die voranschreitende Zerstörung nicht nur gebremst, sondern an ihrer Stelle auch etwas Besseres geschaffen werden kann. Denn nicht nur die Zapatistas, auch viele Mitglieder der Delegation sehen: Wieder in Verbindung mit der Erde zu kommen, das Land mit unseren eigenen Händen zu bearbeiten und uns kollektiv für Land verantwortlich zu fühlen, ist grundlegend dafür, dass wir die Naturzerstörung aufhalten, uns als Gemeinschaften nachhaltig organisieren und ein „kollektives Herz“ entwickeln können.